Plötzlich ist er da, der Schmerz. Es
zieht in der Schulter, es reißt im
Rücken, der Kopf explodiert. Oft gehen die Schmerzen, wenn die Ursache erst gefunden
ist, so schnell wie sie gekommen sind. Für über eine Million Deutsche aber ist
der Schmerz kein Warnsignal mehr, das auf einen schädlichen äußeren Einfluss
oder eine Erkrankung hinweist, sondern ein ständiger Begleiter. Sie leiden
unter chronischen Schmerzen, die einfach nicht mehr verschwinden wollen, selbst
wenn die Ursache längst behoben wurde.
Dr. Bernd Schlei beschäftigt sich bereits seit über 7 Jahren mit der Entstehung, vor allem aber mit der Therapie chronischer Schmerzen. Im Brüderkrankenhaus St. Josef Paderborn, im St.-Marien-Hospital Marsberg und im MVZ Westheim setzt er sich für eine frühzeitige Diagnose und eine individuelle, bedarfsgerechte ambulante oder stationäre Therapie ein. Im Gespräch erläutert der Leitende Oberarzt Ursachen und Therapiekonzepte bei chronischen Schmerzen und verrät die wichtigsten Maßnahmen, um Schmerzkarrieren frühzeitig zu stoppen.
Wir alle kennen Schmerzen. Wir nehmen Tabletten, damit Sie verschwinden und lassen Ärzte die Ursache beheben, wenn Sie länger anhalten. Wie kann es aber sein, dass manche Schmerzen ohne akuten Grund dauerhaft bleiben?
Schlei: Schmerz ist ein Warnsignal, das von der gefährdeten oder erkrankten Stelle, z.B. einem gequetschten Daumen, durch den ganzen Körper läuft und erst im Gehirn das Gefühl "Schmerz" auslöst. Das Ganze passiert in einem komplexen Ablauf, bei dem im Bruchteil einer Sekunde die Information von den Schmerzfühlern, die wir überall im Körper haben, zum Gehirn gelangt. Das Gehirn schickt als Gegenwehr sogleich Stoffe zurück, die das Schmerzempfinden hemmen. Wenn Schmerzen nun über einen längeren Zeitraum bestehen, kann dieses System durcheinander geraten. Zuletzt sendet der Körper ohne Auslöser die Botschaft "Schmerz" ans Gehirn. Dann empfindet der Mensch quasi grundlos Schmerzen.
Man bildet sich den Schmerz also ein?
Schlei: Gerade das nicht. Der Schmerz ist
völlig real vorhanden. Der Körper produziert ihn nun selber, ohne dass es einen
Auslöser gibt. Daher erleiden Menschen oft jahrelange Schmerzkarrieren, in
denen sich ihre Symptome verschlimmern. Sie gehen zum Hausarzt, der überweist
zum Facharzt, aber keiner findet eine Ursache - weil es keine gibt. Aber der
Schmerz bleibt. Das ist eine sehr hohe Belastung, weil sich zu den Schmerzen
auch noch Unsicherheit oder sogar soziale Anfeindung gesellt. Psyche und
Schmerz sind sehr eng miteinander verbunden und oftmals entwickelt sich eine
Negativspirale, die erst mit einer multimodalen Therapie wieder gestoppt werden
kann.
Multimodale Schmerztherapie. Das
klingt kompliziert. Was muss ich mir darunter vorstellen?
Schlei: Multimodal bedeutet "auf vielen
Wegen". In der Schmerztherapie gehen wir davon aus, dass ein Mensch mehr ist
als die Summe seiner Teile und dass seine Empfindungen, besonders die
Schmerzwahrnehmung, durch viele Faktoren entsteht, die einander beeinflussen. Wir
nennen das in der Medizin "biopsychosoziales Schmerzmodell". Es berücksichtigt
die körperlichen, seelischen und umweltbezogenen Faktoren. Wir bekämpfen die
vielen Wege der Schmerzentstehung mit genauso vielen Wegen der Linderung. Statt
multimodal könnte man vereinfacht auch ganzheitlich sagen.
Und
was sind das für Wege, die Sie beschreiten?
Schlei: Das
oberste Ziel ist es, den Schmerz zu unterbrechen, damit die fehlerhaften Prozesse
im Organismus zum Erliegen kommen. Dazu arbeiten wir mit vielen verschiedenen
medizinischen und therapeutischen Disziplinen zusammen und entwickeln sehr
individuelle Konzepte. Einige Menschen können ihrer Krankheit besser ambulant
begegnen, anderen hilft ein zweiwöchiger stationärer Aufenthalt in einer
Gruppe, um sich eine Zeit lang ganz auf die Therapie konzentrieren zu können. Zudem
bietet die stationäre Therapie in Marsberg Ruhe und Naturnähe in einer
landschaftlichen schönen Umgebung. Aber ob ambulant oder stationär macht bei
den Maßnahmen keinen großen Unterschied: Die Ärzte stellen in erster Linie die
Schmerzmedikation ein. Mit Akkupunktur oder dem Einsatz von Tens-Geräten, die
leichte Stromimpulse setzen, können wir ebenfalls die Schmerzleitung
beeinflussen. Physiotherapeuten bringen Patienten schonend wieder in Bewegung oder
vermitteln unterschiedliche Entspannungstechniken, um auch unter Schmerzen und
hoher psychischer Belastung wieder zur Ruhe zu kommen. Auch komplementäre
Angebote wie Aromatherapie oder Fußreflexzonenmassagen kommen zum Einsatz.
Schulmediziner greifen selten auf
Naturheilkunde zurück. Warum ist das in der Schmerztherapie anders?
Schlei: In der Schmerztherapie gibt es
bislang relativ wenig valide Studien
über den statistischen Erfolg schulmedizinischer Therapien. Noch weniger Studien
gibt es über naturheilkundliche Anwendungen. Wir sind auf unsere Erfahrungen zurückgeworfen.
Die zeigen, dass es nicht auf den Ansatz ankommt, sondern wie effektiv die
Schmerzübermittlung unterbrochen werden kann. Sehr gute Erfahrungen haben
Schmerztherapeuten weltweit mit dem Zusammenspiel vieler Maßnahmen aus
Schulmedizin und Naturheilkunde gemacht.
Bedeutet das, wenn Sie feststellen
würden, dass der Besuch von Heavy Metall Konzerten hilft, würden Sie den
Konzertbesuch in den Therapieplan aufnehmen?
Schlei: Im Grunde genommen ja. Wir wissen,
dass Musik positive therapeutische Effekte haben kann und setzen dies gezielt
ein. Die Wahrscheinlichkeit, dass Heavy Metall auf eine größere Patientengruppe
positiv wirkt, würde ich allerdings als gering einstufen.
Wenn das oberste Ziel die
Unterbrechung der Schmerzen ist, warum setzen Sie dann auf Massagen, Musik und
Bewegung? Gibt es keine Mittel, die jeden Schmerz ausschalten können, wie auch
bei einer Operation?
Schlei: Wer Schmerzmittel verteufelt, wird
chronische Schmerzen nicht in den Griff bekommen, wer nur auf Medikamente
setzt, springt zur kurz. Starke Medikamente haben oftmals Nebenwirkungen,
können emotional dumpf oder auch abhängig machen. Wir wollen gemeinsam mit den
Patienten ein optimales Gleichgewicht erarbeiten, in dem der Schmerz das Leben
nicht mehr dominiert und bestenfalls verschwindet. Dazu braucht es mehr als nur
Medikamente und zu allererst die Bereitschaft des Patienten, mitzuarbeiten. Dem
Schmerz kann letztlich nur jeder selbst entkommen. Wir Therapeuten zeigen aber
die Wege auf und gehen ein gutes Stück mit.
Zum Abschluss. Haben Sie einen guten
Tipp, wie man mit Schmerzen von Anfang richtig umgeht?
Schlei: Einen einzigen vielleicht nicht, aber
drei ganz allgemeine Tipps habe ich: suchen Sie bei anhaltenden Schmerzen
frühzeitig einen Spezialisten auf. Bleiben Sie trotz Schmerzen in moderater
Bewegung statt in Schonstarre zu fallen und achten Sie auch auf Ihr inneres
Gleichgewicht.
Ein paar einfache Regeln können helfen, damit aus einem akuten kein chronischer Schmerz wird.
Vorstellung
Eine
umfassende, interdisziplinäre Anamnese und Diagnostik bilden das Fundament der
gesamten Schmerztherapie. Beim Vorstellungstermin beim Schmerztherapeuten werden
sowohl alle Vorbefunde gesichtet als
auch eine ärztliche Anamnese und
gründliche körperliche Untersuchung, eine physiotherapeutische Befundung und eine psychologische Exploration vorgenommen.
Auswertung
Die
Ergebnisse werden ausgewertet und eine Therapieempfehlung gegeben. Diese kann
beispielsweise eine Überweisung zu einem anderen Facharzt, eine Einstellung der
Schmerzmedikation oder eine ambulante oder stationäre Schmerztherapie
beinhalten.
Ambulante
und stationäre Therapie
Das
Konzept der stationären und ambulanten Schmerztherapie ist multimodal, das
heißt, es begreift die chronische Schmerzentstehung als Zusammenspiel vieler
Faktoren mit sensorischer, affektiver, kognitiver und funktioneller Dimension.
Wissensvermittlung. Wer seine Krankheit kennt und
versteht, kann anders damit umgehen. Deshalb erklären Fachleute
laienverständlich wie Schmerzen entstehen und wahrgenommen werden, wie es zu
Chronifizierungen kommt und welche Einflüsse den Schmerz begünstigen oder
mindern können.
Individuelle Medikation. Fachärzte für Anästhesie und
Schmerztherapie stellen eine bedarfsgerechte Medikation zusammen. Hierbei kann
es zu einer Reduktion oder Erhöhung bereits eingenommener Präparate kommen oder
auch neue Pharmazeutika sowie Naturheilprodukte zum Einsatz kommen.
Linderung. Komplementärmedizinische Maßnahmen
wie Akkupunktur oder auch Reizstromgeräte werden zur Schmerzlinderung und zur
Durchbrechung der Schmerzroutinen im Gehirn eingesetzt.
Aktivierung. Mit Schmerzen, besonders im Rücken und
in den Gelenken, neigen viele Patienten zu Passivität. Schmerzvermeidung und vermeintliche
Schonung begünstigen aber zumeist den Schmerz. Daher ist Aktivierung durch
Physiotherapeuten ein wichtiger Therapiebaustein. Spaziergänge, Gymnastik,
Gerätefitness oder Bewegung im Wasser unter Anleitung sind häufige
Aktivierungsmaßnahmen, die zugleich eine präventive Verbesserung der Haltung
und der Bewegungsmuster nach sich zieht.
Entspannung. Auch mit Schmerzen abschalten und zur
Ruhe kommen können, erhöht die Schmerztoleranz und die Lebensfreude. Daher
gehört das Erlernen von Entspannungstechniken grundlegend zum multimodalen Therapiekonzept.
Aromaölmassagen, Fußreflexzonenmassagen und Bäder werden ergänzend kombiniert.
Reflexion. Ständiger Schmerz verhindert eine
klare Sicht. In der Therapie lernen Patienten daher, die Signale und Reaktionen
des eigenen Körpers differenziert wahrzunehmen und besser einzuschätzen.
Austausch. Der Austausch mit Fachleuten und anderen
Betroffenen hilft, Ängste abzubauen und den Umgang mit der eigenen Krankheit zu
erleichtern.
Evaluation
Die Erfolge einzelner
Maßnahmen und des gesamten Therapieplans werden überprüft. Wichtig ist,
Veränderungen wahrzunehmen und auch kleine Erfolge zu feiern.
Therapieanpassung
Nach der begleiteten Lernphase während
der stationären oder ambulanten Therapie wird der Therapieplan gemäß der Evaluation
angepasst. Hilfreiche Methoden werden vertieft, erfolglose Maßnahmen
gestrichen. Zentraler Aspekt dieser Phase ist die Integration und Fortführung
im Alltag.